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#6 – Die Form der Freundlichkeit

  • Prop
  • 30. Okt.
  • 3 Min. Lesezeit

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Er lebte in einer kleinen Wohnung oberhalb der Klippe. Ein Wasserkocher stand auf dem Herd. Durch sein Fenster ging der Blick auf die Kante, wo Fels und Wasser aufeinandertreffen. Wenn ihm jemand zu nahe kam, wechselte er die Straßenseite. Er bot Tee und Zeit an. Einfache Gesten. Solche, die einem unruhigen Tag Halt gaben. Er ist nun fort, doch sein Vermächtnis wird Generationen überdauern.


Solche Momente lassen einen innehalten. Man merkt, wie ein Raum lebendig wirken kann, selbst wenn niemand spricht. Jemand piept mit seinem Handy, und der Moment verfliegt. Eine hochgezogene Schulter. Ich glaube, man merkt es schon, bevor ein Wort gesprochen wird, wenn jemand den Halt verliert. Die Haut um den Mund wird blass. Die Hände finden keine Ruhe. Man sieht es an der Art, wie jemand etwas neben sich steht. Komisch, wie die kleinsten Zeichen die größte Bedeutung haben. Man sieht es einfach.


Sehen hat seine eigene Anziehungskraft. Du merkst, wie du deinen Stuhl ein Stück näher rückst. Kein Plan. Keine Worte. Dampf steigt von der Tasse auf, und die Luft ist still. Präsenz lastet schwerer als jede Lösung. Du hältst den Raum ruhig, während Wut oder Angst, manchmal auch gar nichts, hindurch- und wieder hinausströmt. Du kennst das Gefühl, wenn der Lärm in deinem Kopf endlich verstummt und du deinen eigenen Atem hörst. Manchmal ist das alles, was man braucht. Ausharren, während sich die Stimmung im Inneren wendet. Du verweilst in der Stille etwas länger, als es angenehm ist. Und dann noch länger. Also wartest du. Der Stuhl leistet einen Teil der Arbeit. Der Wasserkocher den Rest.


Irgendwo in uns brennt noch immer die alte Tradition. Vor der Zeit des Geldes schätzten die Menschen Wärme und Verbundenheit. Der eine hielt die Flamme in seinen Händen. Der andere legte ein Holzscheit nach und beobachtete das Feuer. Mein Vater tat das auf seine Weise. Er saß mit Freunden zusammen, bis sich ihre Anspannung löste. Ohne Drama. Ohne einen Namen dafür. Er sagte: „Gebt euch eine Minute“, und wartete, bis diese Minute ihre Wirkung entfaltet hatte. Ich trage diese Szenen in mir, ohne es zu beabsichtigen. Wir alle tun es. Eine Mutter, die einen Platz freihielt. Ein Chef, der wartete, bis der letzte Kollege sich eingelebt hatte. So wird Fürsorge weitergegeben. Von Hand zu Hand. Von Zimmer zu Zimmer. Jahr für Jahr.


Vielleicht war es diese innere Ruhe, die der Mann in der Wohnung ausstrahlte. Er tauchte einfach auf, und der Rest folgte ihm. Eine Tasse Tee wurde eingeschenkt, während der Wasserkocher sprach. Von solchen Menschen lernt man, ohne dass sie es einem beibringen wollen. Es gibt keine schriftliche Lektion. Sie liegt darin, wie sie im Türrahmen stehen, wie sie einem Raum lassen, um das Gleichgewicht wiederzufinden. Und wenn man es einmal gesehen hat, sieht man es überall. In kleinen Gefälligkeiten, ohne viel Aufhebens. In dem Gefühl, wie sich die Zeit dehnt, wenn einem jemand Raum zum Atmen gibt.


Wie die Liebe, so ist auch die Güte unerschöpflich. Ihre einzige Grenze ist die Anzahl der Stunden eines Tages. Vierundzwanzig Stunden, und wir versuchen es morgen aufs Neue. Was wir bewahren, prägt uns. Wenn wir die Wärme des Feuers hüten, ist immer genug für alle da. Wenn wir aufhören, uns um Verbindung zu bemühen, wird es kalt im Raum. Das wissen Sie bereits. Die meisten von uns wissen es. Wir vergessen es nur, weil die Welt so laut und oft redet.


Vielleicht beginnt es mit einer einzigen Person. Einem Gesicht, an dem man vorbeigeht. Einer kalten Stille, die einem auffällt. Man hält den Wasserkocher warm. Man stellt eine sanfte Frage und lässt sie unvoreingenommen wirken. Die Antwort könnte eine Geschichte sein. Vielleicht ein Achselzucken. Vielleicht eine sanfte Berührung. So oder so, die Atmosphäre im Raum wird weicher. Das genügt fürs Erste. Der Mann in der Wohnung würde es verstehen. Das Fenster ist einen Spalt geöffnet. Meerlicht fällt an die Wand. Der Wasserkocher kommt wieder zur Ruhe.


Falls Ihnen das bekannt vorkommt, sind Sie nicht allein. In Australien erreichen Sie Lifeline rund um die Uhr unter der Nummer 13 11 14.

 
 
 

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